27.05.2010

Bremswirkung hinten oder vorne?

Die dynamische Achslastverteilung, also das Einnicken des Fahrzeuges beim Bremsen und beim Beschleunigen, hat auch Auswirkungen auf diese Vorgänge. Es ist bekannt, dass durch dieses Phänomen die Räder frontgetriebener Autos beim Beschleunigen schneller durchdrehen, dafür die hinteren Räder von frontlastigen Fahrzeugen eher blockieren.

Bremswirkung hinten oder vorne?

VON ANDREAS LERCH

Fahrende Fahrzeuge sind mit «Schwung» oder «Wucht» unterwegs. In ihnen steckt kinetische beziehungsweise Bewegungsenergie. Diese hängt von der Fahrzeugmasse und dem Quadrat der Geschwindigkeit ab. Dieses Geschwindigkeitsquadrat bedeutet, dass einem bestimmten Fahrzeug für die Beschleunigung von 40 auf 60 km/h weniger Energie zugeführt werden muss, als bei einer Beschleunigung von 60 auf 80 km/h.

Energieumwandlungen

Bei einer maximalen Beschleunigungsfahrt, also einer Beschleunigung unter Volllast ist es aus diesen Gründen nicht möglich, die Geschwindigkeit kontinuierlich oder linear zu steigern. Wenn das Fahrzeug aus dem Beispiel von Bild 2 in 3.6 s von 0 auf 50 km/h beschleunigt, geht es bis 100 km/h mehr als doppelt so lange. Vereinfacht werden die Beschleunigungsdiagramme jedoch linear dargestellt (rote Linie in Bild 2). Während der Beschleunigung wird dem Fahrzeug durch den Verbrennungsmotor während 11.5 s Energie zugeführt, diese Energie wird dann während 20 Sekunden gehalten (konstante Geschwindigkeit) und anschliessend während 2.8 s oder über eine Wegstrecke von 39 m in den Reibungsbremsen in Wärmeenergie umgewandelt.

Leistungsvergleich

Es ist interessant, dass das Fahrzeug mit der Bremsanlage die gesamte Energie in einem Viertel der Beschleunigungszeit in Wärme umwandelt.
Die Grundaufgabe einer Maschine ist die Energieumwandlung. Je mehr Energie pro Zeiteinheit umgewandelt werden kann, desto grösser ist die Leistung der Maschine. Braucht also der Antrieb viermal mehr Zeit, um einem Auto die Energie für 100 km/h zuzuführen als die Bremsanlage benötigt, um die Energie wieder abzuführen, ist die Bremsanlage viermal leistungsfähiger. Sind für die Beschleunigung knapp 50 kW Leistung an den Rädern erforderlich, um das 1.35 t schwere Fahrzeug innerhalb von 11.5 s von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen, muss die Bremsanlage gegen 200 kW leisten, um das Auto nach 2.8 Sekunden wieder anzuhalten.

Kraftübertragung

Damit die Bremskraft, welche durch Reibung zwischen dem Belag und der Scheibe oder der Trommel entsteht, auch auf die Strasse übertragen werden kann, müssen wieder einige Grundvoraussetzungen erfüllt werden. Es genügt nicht, dass der Bremsbelag mit möglichst viel Kraft auf die Bremsscheibe gedrückt wird. Wenn das Rad blockiert und in seiner Umdrehungsrichtung plötzlich nicht mehr haftet, sondern gleitet, wird das Kraftübertragungs-Potenzial verkleinert, da die Gleitreibung kleiner ist als die Haftreibung. Die Reibung zwischen Reifen und Fahrbahn muss für eine optimale Bremsung maximal sein. Dazu sind gute Reifen, aber auch ein guter Strassenbelag (möglichst ohne Verschmutzung, ohne Regen, Schnee oder gar Glatteis) nötig. Daneben müssen alle vier Räder des Autos möglichst gleichmässig und ohne Schwingungen auf die Stras­se gepresst werden. Dies ist die Aufgabe der Radführung und verlangt ein perfektes Zusammenspiel von Radaufhängung, Radgeometrie und – bei der Vorderachse – auch noch von der Lenkung.

Bremskraft am Reifen

In jeder Fahrsituation muss dem Fahrer klar sein, dass die Verbindung von Auto und Strasse allein durch vier etwa handflächengrosse Flächen besteht. Ob er nun langsam oder schnell, bei guten oder schlechten Fahrbahnverhältnissen fährt, diese Faustregel bleibt bestehen. Ist das Fahrzeug mit breiteren Reifen ausgerüstet, so wird die Fläche (Latsch) breiter und dafür etwas weniger lang, sind die Reifen schmal, wird der Latsch länger und schmaler.
Jeder Reifen kann in seinem momentanen Betriebszustand und dem gerade gegenüberliegenden Strassenbelag nur eine bestimmte Kraft übertragen (Kammscher Kreis, Bild 4). Wird stark beschleunigt oder stark gebremst, kann nicht gleichzeitig um eine enge Kurve gefahren werden. Wenn nämlich in Bild 4 der blaue Pfeil, welcher die Diagonale des Rechtecks aus Längs- und Seitenkraft bildet, aus dem roten Kreis stösst, kann der Reifen die resultierende Kraft nicht mehr übertragen. Also: entweder kann der Reifen eine grosse Seitenkraft oder eine grosse Längskraft übertragen – beides miteinander geht nicht.
Ob dieser Kammsche Kreis wirklich rund ist, darf bezweifelt werden. Zahllose Einflussfaktoren mischen bei der Form dieser Figur mit. Alles was in Längs- oder Querrichtung zum Haftwert beiträgt, muss im Kammschen Kreis berücksichtigt werden.

Reibung

Neben der Reibungszahl µ ist die Radbelastung von entscheidender Bedeutung für die Kraftübertragung am Rad. Der englische Physiker Isaac Newton (1642-1727) hat in seinen physikalischen Studien festgehalten, dass die Reibungskraft allein vom Reibwert und der senkrecht auf den reibenden Körper wirkenden Kraft abhängig ist. Die Fläche ist beim newtonschen Gesetz nicht relevant. Da Gummi aber ein «nicht newtonsches» Element ist, spielen die Verformung und die Mikroprofilierung beim Reifen eine nicht zu unterschätzende Rolle auf die Reifenhaftung. Aber natürlich bleiben auch beim Reifen die beiden wichtigsten Grössen der Haftwert und die Normalkraft.
Das Auto ist durch die Fahrzeugfederung ein schwingendes Gebilde und die Nickbewegungen beim Beschleunigen und Bremsen, aber auch die Wankbewegungen bei Kurvenfahrt, beeinflussen die Übertragungsmöglichkeiten der Reifenkräfte.
Da die Bremskraft in den meisten Fällen wesentlich grösser ist als die Antriebskraft, spielen diese dynamischen Vorgänge auch gerade beim Bremsen eine Rolle und deshalb müssen die Vorderräder bei Vollbremsungen einen grösseren Bremsanteil übernehmen als bei leichten Bremsungen.
Statische Achslastverteilung
Steht ein Auto still, wird seine gesamte Gewichtskraft, welche theoretisch an einem zentralen Punkt des Autos – seinem Schwerpunkt – angreift, in Richtung Erdmittelpunkt geleitet. Die Erdoberfläche, welche unter einem Auto in der Regel eine Strasse darstellt, verhindert, dass das Auto zum Erdmittelpunkt fallen kann und stellt ihm unter den Rädern die entsprechenden Gegen- oder Reaktionskräfte entgegen. Aus diesem Grund weisen die Pfeilspitzen in Bild 5 in unterschiedliche Richtungen: Die Gewichtskraft FG weist Richtung Erdmittelpunkt und die Gewichtskräfte hinten und vorne (FGh und FGv) weisen vom Erdmittelpunkt nach aussen.
Leider kann die genaue Höhe des Schwerpunktes bei einem Fahrzeug nur durch Versuchsreihen herausgefunden werden. Durch die verschiedenen Materialien und vor allem die vielen Hohlräume, kann die Schwerpunkthöhe schlecht bestimmt werden.
Die statische Gewichtsverteilung sagt aus, welche Gewichtskraft auf der Vorder- bzw. auf der Hinterachse lastet. Damit kann die Lage des Schwerpunktes zwischen den Achsen bestimmt werden.
Stellt man sich vor, das Fahrzeug stehe mit der hinteren Achse auf einer Waage, zeigt diese ja nicht die gesamte Fahrzeugmasse an. Diese Gewichtskraft bzw. die Reaktionskraft der Waage multipliziert mit dem Radstand ergibt ein rechtsdrehendes Drehmoment. Dieses Drehmoment muss genau gleich gross sein wie die Schwerpunkts-Gewichtkraft multipliziert mal den Abstand zur Vorderachse (lv). Die gleichen Überlegungen gelten, wenn die Vorderachse auf der Waage steht. Mit diesen Berechnungen kann die Schwerpunktslage in der Längsrichtung bestimmt werden.

Dynamische Radlastverteilung

Während des Bremsvorgangs ergibt sich eine zusätzliche, waagrechte Kraft auf den Schwerpunkt. Diese ergibt sich aus der gesamten Fahrzeugmasse und der momentanen Beschleunigung. Wird die Beschleunigungs- oder Verzögerungskraft mit der Schwerpunkthöhe multipliziert, ergibt dies erneut ein rechtsdrehendes Drehmoment und belastet aus diesem Grund die Vorderachse zusätzlich bzw. entlastet die Hinterachse (Bild 5). Die Strasse oder die Erde muss auch darauf reagieren und ein Reaktionsmoment bereitstellen. Die «Erde» muss also während des Bremsvorgangs unter den Vorderrädern mehr Kraft aufwenden, damit die Gegenkraft gewährleistet ist. Diese Gegenkraft multipliziert mit dem Radstand ergibt das erforderliche linksdrehende Gegenmoment.
Bei der Berechnung dieser Achslasten spielen also neben der Masse des Fahrzeuges und der Verzögerung auch die Höhe des Schwerpunktes und der Radstand eine Rolle.
Klar ist: Je höher der Schwerpunkt liegt und je grösser die Verzögerung ist, desto mehr wird beim Bremsen die Vorderachse be- und die Hinterachse entlastet.

Abbremsung

Die gesamte Bremskraft dividiert mit der Fahrzeug-Gewichtskraft ergibt die dimensionslose Grösse der Abbremsung z. Sie kann auch mit 100 multipliziert und dann in einem Prozentwert angegeben werden. Da die Gewichtskraft normalerweise senkrecht auf die Räder wirkt, bildet sie die Normalkraft, somit ist die physikalische Grösse der Abbremsung gleich dem mittleren Reibwert aller Räder.
Der Abbremsungswert kann auch pro Achse oder sogar pro Rad angegeben werden. Damit ergeben sich Möglichkeiten, die Abbremsungen pro Achse zu bestimmen. Gerade bei Nutzfahrzeugen ist dies eine gängige Angabeart. Bei der Messung der Bremskraft auf dem Bremsprüfstand wird dabei gleichzeitig die Achslast gemessen. Je nach pneumatischer Druckeinsteuerung ergibt sich eine Teil- oder eine Vollbremsung, deren Werte im Gesetz vorgeschrieben sind.
Beim Personenwagen kann die Abbremsung mit der dynamsichen Achslast verknüpft werden (Bild 6). Die Geraden 1 und 2 stellen die Achslasten dar. Bei 0 % Abbremsung sind es die statischen Achslasten. Bei grösser werdender Abbremsung weist die rote Gerade nach oben, die blaue nach unten. Die Kurven 3 und 4 zeigen die zur Abbremsung gehörende ideale Bremskraft. Wird nicht gebremst, z = 0, betragen auch die Bremskräfte für die Vorder- und die Hinterachse 0. Wird voll gebremst und beträgt die Abbremsung 1 oder 100 %, beträgt die ideale Bremskraft genau so viel wie die Achslast. Dies würde auf ein µ = 1 hinweisen. Bei 50 % Abbremsung beträgt die Bremskraft auch 50 % der aktuellen dynamischen Achslast.
Dass die Bremskräfte nicht linear ansteigen, hat damit zu tun, dass in einem Teil der Berechnungsformel ein Verzögerungsquadrat steht.

Bremskraftverteilungs-Diagramm

Wird die dynamische Achslastverlagerung mit immer grösseren Verzögerungswerten durchgerechnet, kommt der Moment, in welchem die Hinterachse den Bodenkontakt verliert, weil sie abhebt. Das gleiche gilt für die Vorderachse beim Beschleunigungsvorgang. In einem Diagramm muss die Kurve deshalb sowohl die x- als auch die y-Achse schneiden. Der Ursprungspunkt des Diagramms stellt das frei rollende Auto dar. Der erste Quadrant des Diagramms zeigt den Bremsvorgang und der dritte Quadrant den Beschleunigungsvorgang. Die Achsen werden als Prozentwerte dargestellt, welche die Bremskraft der entsprechenden Achse mit der Gewichtskraft des gesamten Fahrzeuges dividiert. Aus diesem Grund kann der rote Bogen, die Parabel in der Hochachse gar nie 100 % erreichen, weil ja die Hinterachse mit zunehmender Abbremsung prozentual immer weniger Bremsanteil hat.
Wird der Massstab der Achsen entsprechen gewählt, können für die Fahrzeugabbremsung die grünen Linien unter einem Winkel von 45° eingezeichnet werden. Wird eine grüne Line von der roten Parabel geschnitten, so können die waagrecht und die senkrecht abgelesenen Werte zusammengezählt werden und ergeben genau diesen Gesamtabbremswert.

Reibwerte und Bremskraftverteilung

Die Achsenschnittpunkte mit der Parabel werden Überschlagpunkte genannt. Der Schnittpunkt mit der x-Achse Bremsüberschlagpunkt und der Schnittpunkt mit der y-Achse Beschleunigungsüberschlagpunkt. Schneidet die rote Parabel die grüne Abbremsungslinie bei 100 %, bedeutet dies, dass die gesamte Bremskraft des Fahrzeuges und die Gewichtskraft gerade übereinstimmen, dass also der Reibwert genau 1 beträgt. Somit können die einzelnen Reibwertgeraden für die Vorder- und Hinterachse eingetragen werden.
Die blaue Linie (Bild 9) stellt eine (angenommene) Bremskraftverteilung mittels eines Bremskraftreglers dar. Die optimale Verteilung zwischen Vorder- und Hinterachse wird jedoch nur gerade im Schnittpunkt mit der roten Parabel erreicht. Mit Hilfe dieses Diagramms kann nun theoretisch jeder Verzögerungsvorgang simuliert und bei einem entsprechenden Reibwert herausgefunden werden, welche Abbremsung möglich ist und welche Achse allenfalls zuerst blockieren würde.
Diese Zusammenhänge sind aber komplex und erfordern ein ganz exaktes Studium des Bremskraftverteilungs-Diagramms.

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