11.04.2010

Jürg Rothen darüber, was der Schweiz heutzutage fehlt

Anpacken! Angreifen! Investieren!

Jürg Rothen darüber, was der Schweiz heutzutage fehlt

Jürg Rothen

Kürzlich habe ich beim Zappen einen sehr traurigen Satz aufgeschnappt: Ein bekannter deutscher Journalist behauptete, die Schweiz hätte keine Vision. Natürlich war ich beleidigt. Wie kann ausgerechnet ein Deutscher in einer Schweizer Diskussionsrunde so etwas behaupten?!

Wir haben den besten Käse, die besten Uhren, die besten Schulen. Die Reichen dieser Welt schicken ihre Sprösslinge in die Schweiz zur Schule. Ausserdem haben wir die besten Banken, die beste Demokratie, die beste Medizin: die Reichen dieser Welt lassen sich in der Schweiz behandeln! Dann die beste Forschung, die besten Chemiekonzerne und den besten Nahrungsmittelkonzern. Und schliesslich:

Wir sind auf der ganzen Welt angesehen und beliebt! Und gelten als die nettesten und freundlichsten Menschen. Jeder freut sich, wenn wir kommen, alle mögen uns. Zudem sind wir neutral. Der Schweizer Pass ist so etwas wie ein Nachweis, dass wir etwas Spezielles sind. In den Abgründen der internationalen Gesellschaft so etwas wie die letzte Bastion der wahren Gutmenschen.

Nun. Vielleicht war das wirklich mal so. Oder so ähnlich. Genau kann ich es nicht sagen. Aber ich weiss, dass ich es wirklich so ähnlich empfunden habe – vor langer Zeit. Heute weiss ich: der Deutsche hat Recht. Dank Herrn Hayek, einem Libanesen, haben wir vielleicht gerade noch knapp die besten Uhren. Aber vom Rest können wir nur träumen. Und das ist der springende Punkt:

Wir träumen nicht einmal mehr davon, tatsächlich die Besten zu sein! Kein Traum, keine Vision, gar nichts! Wir sind das klassische Beispiel für ein Volk, das von seiner Vergangenheit lebt. Das selbstzufrieden und überheblich dahinvegetiert. Das darüber abstimmt, wie hoch der Zinssatz bei der Pensionskasse sein muss, anstatt darüber nachzudenken, wie sich das Land in der Zukunft positionieren soll. Was für eine Identität es sich geben soll. Für welche Werte es einstehen will! Nicht einmal das Einfachste, das, was nicht einmal etwas kostet, kriegen wir hin: Nämlich die Gastfreundlichsten, die Nettesten zu sein. Und zwar für einmal nicht für Asylsuchende, sondern für die wenigen Touristen, die die Schweiz noch mögen.

Wollen wir Gastfreundschaft erleben, gehen wir nach Österreich. Allenfalls gibt es zwischendurch deutsches Personal, das höflich ist. Kürzlich war ich mit den Kindern in einem bekannten Skiort. Die für die Kinder bestellten Pommes-Frites gingen vergessen und kamen so erst nach 45 Minuten. Später habe ich dem Eigentümer höflich gesagt, dass die Pommes-Frites schon etwas lang gedauert haben. Er meinte nur, wenn es uns zu langsam ginge, dann sollten wir lieber zu McDonalds gehen. Punkt Schluss.

Lassen Sie es mich klar sagen: Die Zeiten sind vorbei. Wir haben keinen Grund mehr zu glauben, wir seien etwas Besonderes. Im Gegenteil, wenn es so weiter geht, ziehen wir uns besser ganz in die Schweiz zurück. Tragisch aber wahr: Die paar Fränkli, die wir aus­serhalb der Grenze verteilen, auf die können die Meisten getrost verzichten.

Wir müssen uns ganz schnell etwas einfallen lassen, sonst werden wir endgültig überfahren. Und diesmal sind nicht die anderen Schuld. Wir brauchen eine Identität, eine Vision, Ziele, Persönlichkeit, etwas für das wir stehen, unmissverständlich. Entweder sind wir neutral, oder nicht. Entweder EU, oder nicht. Entweder wollen wir die besten Schulen, Universitäten, Medizin, Forschung, Dienstleister, Präzisionstechnik, Gastronomie, Hotellerie, Banken und so weiter. Oder eben nicht. Es braucht ein Bekenntnis, ein Aufwachen:

Aufstehen und Marsch! Aufräumen, ausmisten, Gas geben! Aufhören zu quatschen, zu debattieren, zu philosophieren. Raus aus der Verteidigungsposition. Angreifen! Anpacken! Investieren! Vollgas! Klar machen, wer wir sind. Weg mit den Komplexen! Durchziehen!

Tun wir das nicht, gehen wir im Einheitsbrei von Europa und der weltweiten Globalisierung unter. Widerstandslos ausgeliefert. Das rote Büchlein mit dem weissen Kreuz bestenfalls mitleidig belächelt.
Der Deutsche hatte recht. Und er war wenigstens so nett, es uns offen zu sagen. Er hätte in dieser Diskussionsrunde, als einziger Deutscher unter Schweizer Journalisten, auch jetzt schon einfach nur mitleidig lächeln können.

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